Eine poetische Kamerafahrt durch
die herbstlichen Hügel des Cévennes-Nationalparks – so beginnt Alain Guiraudies
neuster Film „Misericordia“. Aus dieser etablierenden Kamerabewegung schält der
Regisseur nach und nach die Geschichte des jungen Jérémie (Félix Kysyl) heraus,
der nach dem Tod seines alten Freundes Jean-Pierre, dem Dorfbäcker, in dessen
Heimatdorf zurückkehrt. In der melancholischen Atmosphäre des Dorfes wird
Jérémie von der verwitweten Martine (Catherine Frot) empfangen, die ihm
vorschlägt, die Bäckerei ihres verstorbenen Mannes zu übernehmen. Doch während
er sich in das ländliche Leben einfügt, entpuppt sich das scheinbar einfache
Drama schnell als komplexer Thriller voller Intrigen und Missverständnisse.
Denn der konfliktbeladene Sohn von Martine, Vincent (Jean-Baptiste Durand),
sieht in Jérémie eine Bedrohung für seine Mutter. In Wirklichkeit hegt er
jedoch Gefühle für den übergewichtigen Einzelgänger Walter (David Ayala), was
die Spannungen weiter anheizt.
Alain Guiraudie ist der Alfred Hitchcock des queeren Kinos. Und auch in seinem neusten Film zeichnet er ein faszinierendes Bild von einer Gemeinschaft, in der die menschlichen Begierden und Unsicherheiten aufeinanderprallen. Dabei entladen sich unterdrückte Sexualität und Begehren in wunderbaren Suspense-Momenten, die schon Guiraudies letzte Filme wie „Der Fremde am See“ prägten. Mit einer sehr eigenen Mischung aus skurrilem Humor und philosophischer Tiefe spiegelt „Misericordia“ nicht nur die persönlichen Kämpfe seiner Figuren wider, sondern thematisiert auch universelle Fragen von Identität und Heimat. Ein besonderer Film, der seinen Regisseur in die erste Liga der Autorenfilmer katapultieren sollte.
Festival u.a. in Cannes, Toronto, New York, São Paulo und London.